Reisebericht 2010

Bolivien-Reisebericht von Peter Seiringer

„Venga, venga, amigo, buen precio solo para ti, best price only for you my friend, my friend come here,” schreien die kokakauenden cruzeños, die Bewohner des tropischen Amazonasgebietes im Osten Boliviens, sobald wir -die gringos- aus dem Bus am Terminal von Santa Cruz aussteigen. Gezeichnet von einer 15-stündigen Fahrt in einem Bus, dessen Kilometerzähler bald 400.000 anzeigt, in Sitzen, deren Pölster so durchgesessen sind, dass man sie mit Bierbänken verwechseln könnte - die beachtliche Menge an Staub jedoch, die aus ihnen entweicht, wenn man sich in sie setzt und sich generell im Passagierbereich befindet, lässt dann doch vermuten, dass es sich einst um Pölster gehandelt haben muss - verlassen wir das Verkehrsmittel, das wohl sonstwo bei jeder „Pickerl-Kontrolle“ durchfallen würde. Wir sind froh, heil am Ziel angekommen zu sein.
Die Fahrt über Nacht war ereignisreich und eine Erfahrung für sich. Auf Schotterstraßen geht es bergauf und bergab, mit Geschwindigkeiten, wie sie bei uns auf Autobahnen erzielt werden, vorbei an Gegenverkehr, den man entweder mit dem einen noch funktionierenden Scheinwerfer anblinkt, oder anhupt – auch jenes schon etwas eingerostete Geräusch der Hupe lässt darauf schließen, dass diese in Bolivien nicht selten im Straßenverkehr betätigt wird. Wegen der Lautstärke und Handlung des uralten Steven Seagal-Actionfilms und der konstanten Vibration, welche man auf Grund der Straßenverhältnisse und Fahrweise des Chauffeurs (der wohl kaum älter als 17 ist) ständig fühlt, ist es so gut wie unmöglich, im Bus zu schlafen. Auch der Blick aus dem Fenster ist nichts für schlechte Nerven, befindet sich doch nicht selten ein senkrechter Abhang, der mehrere hundert Meter tief ist, unmittelbar neben der Straße – und zwar ohne Leitplanken oder sonstige Befestigungen. An der ein oder anderen Kehre sieht man Gedenktafeln, Kreuze und Kerzen für die Passagiere, welche sich in den ausgebrannten Bussen, die noch immer am Ende des Abhangs liegen, befanden. Wir verbringen unsere Zeit damit, den Hühnern zuzuschauen, die am Gang im Bus auf und ab gehen, mit einem der vielen Kinder, die sich um uns herum befinden zu spielen oder uns mit den anderen Passagieren, die sich uns gegenüber alle sehr freundlich und offen zeigen, zu unterhalten.

Angekommen am Terminal entscheiden wir uns schlussendlich für einen der zahlreichen, uns lautstark von ihrem Service zu überzeugen versuchenden Taxifahrer und fahren für umgerechnet wenige Cents in die Innenstadt von Santa Cruz. Nur wenige Meter vom Plaza Central ist unser Hotel, schön gelegen in einem Innenhof eines Hauses, das von außen schon etwas herabgekommen aussieht. Die sommerlichen Temperaturen, die gelassene Atmosphäre und die Offenheit der Leute gefallen uns und wir bleiben einige Tage hier. Es ist angenehm, nach den kalten Tagen am altiplano, der Hochebene im Südwesten Boliviens, mit kurzer Hose aus dem Haus zu gehen, ein Eis mit den zahlreichen Schulkindern zu essen oder mit den älteren Herren am Hauptplatz eine Runde Schach zu spielen – wenn auch das etwas weniger erfolgreich..
Nach einigen Tagen nehmen wir Kontakt mit Luis auf, der im Projekt „Calle Cruz,“ etwa eine Stunde außerhalb der Stadt, mitarbeitet. Nach einigen Komplikationen mit der Vereinbarung eines Termins - die Zeit bzw. Verabredungen zu gewissen Zeitpunkten werden in Südamerika etwas entspannter angesehen- haben wir dann doch Glück und es geht sich aus. Luis, mit dem wir uns von vornherein sehr gut verstehen und der uns gegenüber sehr herzlich und offen ist - wie der Großteil der Leute in Bolivien - führt uns zum Projekt und erzählt uns einiges über die Probleme in Santa Cruz, welche hauptsächlich mit Straßenkindern, Kinderarbeit und Drogen zu tun haben.
Die „Calle Cruz“ fängt Straßenkinder auf und bietet ihnen eine schulische Bildung. Die Kinder wohnen am Areal der Schule, arbeiten an den Nachmittagen und Wochenenden und verdienen so ihr eigenes Geld, welches sie für Alltägliches wie Zahnbürste, Klopapier und Seife wieder ausgeben. Jedoch verdienen sie kein „echtes“ Geld, sondern eine eigens für die „Calle Cruz“ gestanzte Währung, mit der nur vor Ort beim vorhandenen kleinen Laden, welcher im Alltag gebräuchliche Dinge führt, bezahlt werden kann. Somit will man den Drogenkonsum unterbinden und den Jugendlichen lernen, mit ihrem verdienten Geld sinnvoll umzugehen.
Noch nie zuvor haben wir einen solchen „Mikrostaat“ gesehen oder von dem Konzept gehört und sind dementsprechend erstaunt, wie gut es funktioniert. Besonders beeindruckt sind wir von der Hingabe, mit welcher die Lehrer mit den Schülern arbeiten. Einige der ehemals drogenabhängigen Jugendlichen kommen ganz neugierig mit großen Augen zu uns und reden mit uns. Wir sehen doch so anders aus und sprechen Spanisch mit einem so fremden Akzent. Alle wirken glücklich und zufrieden und wir hoffen, dass das auch nach dem Verlassen der „Calle Cruz“ so bleibt. Bis heute gehen mir dieser kleine „autonome“ Staat und die Kinder nicht aus dem Kopf.

Von Santa Cruz geht es weiter über das idyllisch liegende Samaipata ins kleine Dorf Comarapa mitten in Bolivien. Dort begrüßen uns die Dominikanerschwestern, welche durch Dr. Spechtenhauser schon von unserer Ankunft gewusst haben. Wir werden herzlich mit Kaffee und Kuchen empfangen und sprechen u.a. mit Sr. Gundelinde aus Deutschland, die schon seit mehreren Jahrzehnten in Bolivien lebt. In den kommenden drei Tagen haben wir sehr viel vor, gibt es doch so viele Projekte im kleinen Comarapa, die der lokal allseits bekannte „Dr. Bernardo“, Dr. Spechtenhauser, unterstützt.
Die Nacht verbringen wir im schönen Gästezimmer des Konvents auf den wohl gemütlichsten Betten während unserer gesamten Rundreise durch Südamerika. Am nächsten Tag in der Früh, nachdem wir ausgiebig bei den Schwestern gefrühstückt haben, fahren wir in das Altenheim im Dorf. Im Obergeschoss befindet sich ein kleines Physiotherapiezentrum und einige neue Zimmer. All das würde es ohne die Unterstützung Dr. Bernardos nicht geben. Wir sind beeindruckt von der Arbeit, die im Heim geleistet wird. Die HeimbewohnerInnen begrüßen uns fröhlich und wir unterhalten uns mit ihnen. So wie der Großteil der Bevölkerung Boliviens sind auch sie sehr gläubig und schenken uns bei der Verabschiedung ihren Segen, was mir sehr viel bedeutet.
Dann geht es weiter zur Kindertagesstätte, die Dr. Spechtenhauser erbauen hat lassen. Sobald wir angekommen sind, fallen uns die Kinder um den Hals, spielen mit uns und erzählen uns von ihrer Familie, ihren Freunden und Hobbies, ihrem Lieblingsessen und Haustieren. In jedem der dunklen, großen Augen der Kinder schillert die Glücklichkeit und Freude wider, die sie in der Einrichtung verspüren. Speziell ich bin total hingerissen von den Kleinen und will schon gar nicht mehr weg. Doch die Kids müssen essen und wir fahren weiter zum Krankenhaus, das von den Schwestern verwaltet wird. Obwohl es recht klein wirkt, gibt es einige Stationen mit Fachärzten und vielen Patienten, die teilweise große Strapazen bei der Anreise auf sich nehmen, um hier versorgt zu werden. Anschließend machen wir noch einen Halt beim „colegio“, vergleichbar mit einem Gymnasium, und werden vom spanischen Direktor durchgeführt. Beim Durchschreiten der Gänge ernten wir freundliche, aber doch verwunderte Blicke der SchülerInnen, welche wohl nicht oft gringos in Comarapa - das ganz offensichtlich abseits des gringo-trails durch Südamerika liegt - zu Gesicht bekommen. Nachdem wir abermals ausgiebig speisen, geht es wieder auf zur himmlischen Nachtruhe im Gästezimmer.

Am nächsten Tag holt uns Tiburcio, ein junger Student der Agrarwissenschaften aus Comarapa, ab, um uns die Ländereien seines Vaters zu zeigen. Er kann es gar nicht glauben, dass wir die englischen Texte der Lieder, die sich auf der gebrannten CD in seinem Auto befinden und er immer hört, kennen und ihm auch noch Interpret und Titel nennen können. Nach einer ca. einstündigen Fahrt auf Forstwegen, durch den Wald in ein nahe gelegenes Tal erreichen wir das Ziel. Sein Vater ist gerade beim Schneiden von Rosen, als er uns erblickt und fröhlich mit einer großen Umarmung begrüßt. Tibu - so wird er von seinen Freunden genannt - zeigt uns die Apfelbäume, die er gepflanzt hat und im kommenden Jahr auf den Grund, den ihm sein Vater geschenkt hat, umsetzen will. Die Finanzierung der Utensilien, die er dafür benötigt, wird von Dr. Bernardo übernommen, wofür er und vor allem sein Vater unendlich dankbar sind. Selten habe ich solch große Dankbarkeit wie sie Tiburcios Vater zeigt, in einem Menschen gesehen.

Nun ist aber unsere Zeit in Comarapa zu Ende und wir fahren mit einem Taxi, das nach einer halben Stunde - zum Glück in der Nähe eines Mechanikers - eine Reifenpanne hat, weiter nach Cochabamba. Doch wir lassen uns davon nicht beeindrucken, ist es ja nicht das erste Mal in Südamerika, dass wir auf Grund einer Panne hängen bleiben. Und es war auch nicht das letzte Mal.

In Cochabamba erwarten uns abermals unglaublich gastfreundliche Dominikanerinnen mit einem großen Abendmahl, die dank der Schwestern in Comarapa schon von unserer Ankunft informiert wurden. Wir lernen bei den Gesprächen mit ihnen sehr viel über das Land, die Sitten und Bräuche der Menschen Boliviens und wollen gar nicht mehr weg.

Am nächsten Tag treffen wir Mirtha, mit der wir zuerst einen 19-jährigen ehemaligen Minenarbeiter aus Potosí besuchen, der bei einem Unfall beide Beine verloren hat. Vor einigen Wochen haben wir die Minen besucht und können noch immer nicht glauben, dass unter solch fürchterlichen Bedingungen Tag für Tag gearbeitet wird. Die Prothesen, welche sich der Teenager ohne die Hilfe von Dr. Spechtenhauser nicht leisten könnte, wurden gerade fertig angepasst. Besonders rührend ist der Moment, als er Mirtha in unserem Beisein mit leichten Tränen in seinen Augen bittet, ihm eine neue Hose zu kaufen – die erste Hose seit über 2 Jahren.
Danach fahren wir weiter zu einem Heim für behinderte Kinder. Abermals sind wir überwältigt von der Arbeit, die hier geleistet wird. Ich stelle mir sie unglaublich schwer, aber auch sehr erfüllend vor. In der kurzen Zeit, in der wir im Heim waren, hat mich persönlich bereits ein starkes Gefühl an Erfülltheit, Zufriedenheit und Glückl überkommen. Die Kinder wirken sehr glücklich und aufgedreht, winken uns enthusiastisch zu und lachen, während wir mit ihnen sprechen. Der kleine Gustavo verwendet schon seit geraumer Zeit ein von Dr. Bernardo finanziertes Hörgerät, dank dem er schön langsam zu sprechen beginnt. „Gracias, Bernardo,“ ist eine der Phrasen, die er schon fast problemfrei sagen kann.

Am nächsten Tag, nachdem die Schwestern extra Apfelstrudel für uns bei der nebenan gelegenen Bäckerei gekauft haben, fahren wir mit Mirtha und Yolanda zum wöchentlichen Treffen von zahlreichen Kindern aus armen Verhältnissen. Dort angekommen, spielen und reden wir mit den Kids, basteln einige Kleinigkeiten, knüpfen Freundschaftsbänder und verbringen den Rest des Vormittags mit ihnen. Während der gemeinsamen Zeit vergessen sie ihre Probleme und genießen das Beisammensein. Ich werde sehr traurig, wenn ich die vielen hübschen, intelligenten und zierlichen Kinder ansehe und mir vorstelle, was ihnen zu Hause angetan wird und sie tagtäglich miterleben müssen. Warum? Ist das gerecht? Eine Träne fließt mir über die Wange. Doch da springt mich eines der Kleinen von hinten an und will mit mir ein Spiel spielen. „Claro,“ sage ich, spiele mit ihr und vergesse für einen Augenblick ihre Sorgen – so wie sie auch, Woche für Woche. Alle fragen, ob wir denn jetzt öfter kämen. Leider muss ich sie jedoch enttäuschen und ihnen erklären, dass wir weiter müssen. Länger geblieben wäre ich natürlich sehr gerne.
Nach den für mich persönlich sehr erfüllenden und lustigen Stunden fahren wir zurück nach Cochabamba. Das Lächeln der Kleinen, die Lieder und Tänze, die sie uns gezeigt haben und die Spiele, die wir mit ihnen gespielt haben, lassen mich bis heute nicht los. Wie schon Emerson in seinem Werk „Self Reliance“ beschreibt, bin auch ich von der Größe eines Kindes überzeugt und habe großen Respekt davor. Wir können und sollten viel von ihnen lernen. Sie sehen die Welt mit ihren eigenen Augen, noch unvoreingenommen und unbekümmert, glücklich und zufrieden mit dem Geringsten.

Doch auch von Cochabamba müssen wir uns jetzt verabschieden - es geht weiter nach La Paz, wo wir noch einige Tage verbringen. Von dort setzen wir unsere Rundreise durch Südamerika Richtung Lago Titicaca und Peru fort. In Ecuador, wo ich zu Beginn meines Aufenthaltes für einige Monate an einem Krankenhaus und einer Kindertagesstätte gearbeitet habe, beenden wir: zwei Freunde aus Innsbruck und ich, unseren gemeinsamen zweimonatigen Trip durch Südamerika.
Für mich geht ein fast halbjähriger Aufenthalt zu Ende und ich kann es noch kaum realisieren. So Anders vieles zu Beginn war, so vertraut ist es jetzt. Nicht nur Spanisch spreche ich jetzt fließend, auch Gewohn- und Eigenheiten der Einheimischen habe ich übernommen – oft unbewusst. Das Leben ruhiger anzugehen habe ich gelernt. Unglaubliche Großzügigkeit und Gastfreundschaft durfte ich auf diesem Kontinent erfahren. Eine zwischenmenschliche Wärme und Offenheit verspüre ich, von der ich in Europa oder Amerika leider nur sehr selten etwas merke. Eines der wichtigsten Dinge im Leben ist es, mit seinen Mitmenschen zu reden, das ist mir jetzt noch mehr klar als zuvor. Mehr Geduld und Toleranz werde ich in Zukunft aufbringen, mich nicht mehr über Kleinigkeiten ärgern. Dankbarer für das vermeintlich Selbstverständliche werde ich sein. Ich werde es vermissen, dieses wunderbare schwer zu beschreibende Gefühl, das man verspürt, wenn man sich in Südamerika, dem oft als so gefährlich und drogenverseucht abgestempelten Kontinent, verspürt. Vermissen auch das Temperament, das die Menschen ausstrahlen, diese Lebendigkeit, die man sonst wohl kaum wo auf der Erde findet.
Danke für die vielen schönen Begegnungen und Erfahrungen, die du mir geschenkt hast. Mögest du und deine Bevölkerung hochleben, Bolivien. Es lebe Südamerika! Viva Bolivia! Viva Sudamérica!

Peter Seiringer