Reisebericht 2012

Bolivien-Reisebericht von Hannes Reitberger

Stunden des Tanzes, Gesangs und des Feierns auf dem Cerro Rico in Potosí - der einst reichsten Stadt der Welt - vergingen, in denen wir gemeinsam mit einer Gruppe von aufgeweckten Einheimischen Opfergaben für die Pachamama (Erdengottheit) erbrachten, Tierskelette verbrannten und ähnliche Rituale zelebrierten. Das traditionelle Fest währte bis in die frühen Morgenstunden. Mein Pfad durch Südamerika, dem ich nun schon 3 Monate folgte, hatte mich an diesen Ort geführt, an dem ich gemeinsam mit meinem Weggefährten Søren aus Dänemark immer tiefere Einblicke in das bitter arme und gleichzeitig unfassbar reiche Bolivien nehmen durfte.
Heute studiere ich, ich fahre Ski, ich gehe meinem Alltag nach und profitiere vom allzu selbstverständlich gewordenen Luxus unserer westlichen Zivilisation. Doch dann erinnere ich mich wieder an 193 unvergessliche Tage des Reisens und speziell an die prägenden Episoden und augenöffnenden Erfahrungen im fernen Bolivien, die an Authentizität wohl kaum zu überbieten waren.
Ich lade ein anhand ausgewählter Ausschnitte meiner Blog-Einträge in diese fremde und faszinierende Welt einzutauchen und möchte mich an dieser Stelle bei Dr. Bernhard Spechtenhauser bedanken, der mir den Schlüssel zu diesen wertvollen Erlebnissen reichte.
Reiseblog „Into the South“ – Zeitraum Mai 2011
SANTA CRUZ. Die Kombination aus dem auf über 4000 Metern gelegenen, holprigen Pfad und dem rasenden, womöglich Coca kauenden Fahrer machte das Schlafen auf der 15-stündigen Fahrt nach Santa Cruz eher schwierig bis unmöglich. Wir hatten aber bereits einprägsamere Nächte in Bussen durchlebt (und weitere sollten folgen). In der größten Stadt Boliviens mit rund 2 Millionen Einwohnern ist es heiß und die Leute scheinen viel mehr brasilianisch als bolivianisch zu sein. Das machen wohl das Wetter sowie die tropische Feuchtigkeit. …
Søren stellte mir seine ebenfalls dänische Reisekollegin Sif vor, die für die nächsten Tage mit von der Crew war. Nach einer feierlichen Messe fand auf der Plaza (Hauptplatz) eine Feierlichkeit zum 45jaehrigen Bestehen der Vereinigung “Fe y Alegría” in Bolivien statt, der zahlreiche Schulen und Kindergärten in ganz Südamerika angehören.

Nach zahlreichen Ansprachen lernte ich die Schwester und Direktorin Maria Rosa kennen, mit der wir am Folgetag ein Colegio, den Kindergarten und die im Juni zu eröffnende, durch Hilfsgelder finanzierte Schule in der Peripherie der Stadt besuchten.
Es machte Spaß mit den Kindern und Jugendlichen zu plaudern, die Babys in der Krabbelstube zu füttern und das Leben in den Anstalten hautnah mitzuerleben. In einer Klasse beispielsweise tummelten sich an die 60 Schüler – und das bei Hitze und dem unerschöpflichen Bewegungsdrang der Kleinsten. Dabei ist der Zustand dieser Einrichtungen für Bolivien vorbildlich. Ich möchte mir nicht ausmalen, unter welchen Umständen andere teils Wissbegierige die so grundlegend wichtige Bildung erlangen. Nach den Besichtigungen gab es noch ein köstliches Mittagessen im Hause der Schwestern, die unglaublich dankbar für unseren Besuch waren. …
In Diego´s Haus wurde Feuer gemacht, Fisch gegrillt, alten bekannten Lieder gelauscht und gequatscht, bevor wir auf der Terrasse die tropischen Temperaturen auskostend vorzüglich speisten. Diego ist in der Filmindustrie, hat schon öfters mit Evo (Morales) geplaudert und konnte uns viel über die zum Grimassen schneiden anregende Andersartigkeit Boliviens erzählen. Qué pais! – Welch wundersames Land!
Beim Karneval in Oruru tanze der Diablo, eine zentrale Figur mit sehr schwerer Maske, so lange, bis er seiner Erschöpfung erliegt, schließlich nicht mehr aufstehen kann und voller Stolz eins wird mit seiner verzauberten Welt. Gezaubert wird auch in einem kleinen Dorf im Norden, in denen Personen, die von einem Blitz getroffen werden und dies überleben, eine gratis Ausbildung zum Magier erhalten und fortan astrologische und sonstige Weisheiten verkünden …

Und dann waren wir für 2 Tage in das Projekt der Calle Cruz involviert. Dem Taxifahrer zeigten wir unsere Destination im zweiten Anillo (Ring) der Stadt auf einer Karte, dieser kutschierte uns durch die Gegend, ließ sich bezahlen und ging seiner Wege. Nur hatte er uns ganz wo anders abgeliefert als vereinbart. Verloren und etwas erzürnt, was das doch für ein Gauner war, stellten wir sicher, dass unsere zweite Taxifahrt uns ans Ziel brachte.
Rechtzeitig schafften wir es noch unseren Micro-Bus mit der Aufschrift “Calle Cruz” um kurz nach 7:00 Uhr Vormittag zu erwischen. Fast 2 Stunden fuhren wir durch die Peripherie der Stadt, bis wir am Land draußen schließlich zwischen vielen Farmen und Feldern, Palmen und auch Wäldern die Republica erreichten. Hier wird Straßenkindern, die sonst den Drogen, dem Alkoholismus, der Prostitution und dem Bandenleben erliegen, ein neues Leben ermöglicht. Etwa 25 Kinder leben hier, vormittags kommen an die 100 mehr um zur Schule zu gehen.
Als wir ankamen waren die Kinder, deren Alter reicht von 6 – 16 Jahren, gerade mit der Arbeit am Feld beschäftigt. Heute war schulfrei, denn zwei Spezialisten waren gekommen um für den Lehrkörper und die zuständigen Personen einen ausführlichen Vortrag über die HIV & AIDS Debatte zu halten. Ich sah eine Weile zu, der Referent sprach sehr deutlich und ich konnte deshalb fast alles verstehen, bevor ich mich den Kindern widmete, die schönlangsam auf das Fußballfeld strömten um sich dort auszutoben.
Søren begab sich sogleich aufs Spielfeld, kam jedoch schon wenig später humpelnd zurück auf die Veranda, war er es doch nicht gewohnt barfuß zu laufen. Ich holte die Jonglierbälle und schon bald wurde Schabernack aller Art getrieben.
Ein kleiner Bub wünschte im Gebet den armen Straßenkindern draußen Barmherzigkeit, dann wurde gegessen, sehr einfache, aber füllende Kost. Es dauerte nicht lange bis einer der Kleinen meine Kamera erspäht hatte. Jeder einzelne wollte ein oder viel lieber gleich mehrere Fotos von sich und mir, in verschiedensten Gangster-Posen und Haltungen. Dies ermüdete mich schon bald derart, ich war umgeben von einer energiegeladenen Horde, sodass ich mich in mein Quartier flüchtete um dort meine ersehnte Siesta zu halten.
Ein netter Herr weckte mich, ich hatte tief und fest geschlafen, trotz der Anwesenheit lärmender Kinder im selben Zimmer, und lud mich ein bei der Feldarbeit mitzuhelfen. Gemeinsam lockerten wir Zuckerrohr kauend die Erde auf, sähten Tomaten, Zwiebeln und Karfiol und bewässerten anschließend unser Werk mit reichlich Grundwasser. Mit der Dämmerung kamen die Mosquitos und ich suchte den Schutz der Republica.
Nach dem Abendessen brachten Sif und ich dem interessierten Leonardo ein paar englische Phrasen bei, ein anderer Bursche bat mich für ihn einen Liebesbrief auf Deutsch zu verfassen, den er dann morgen seiner Liebe Lena (eine junge Deutsche, die sich ein halbes Jahr den Kindern widmet) überreichen wollte. Ein Auto will er ihr zu ihrem Geburtstag schenken… viel Glück damit! Quizás algun día – Vielleicht eines Tages.

Ohrenbetäubender Reggaeton (eine lateinamerikanische Musikrichtung) weckte uns am nächsten Morgen. Ich kroch aus meinem Mosquitonetz hervor, wir frühstückten mit den Kindern und gingen mit Ihnen zur Schule. Über den Vormittag verteilt besuchte ich eine Mathematikstunde, zwei Tanzklassen – welche hier eine ganz zentrale Funktion einzunehmen scheinen, eine Ciencia – Wissenschaftsstunde – in der die Kinder an diesem Tag über verschiedene Blätter und Knochen lernten und auch eine Religionsstunde in der Kapelle. Die Hausübung war es gewesen, das „Vater Unser“ auswendig zu lernen. Von der ganzen Gruppe konnte nur ein einziges Mädchen das Gebet aufsagen, die Professorin war außer sich, Leonardo wurde sogar zum Direktor geschickt, ich schmunzelte vor mich hin.
Letzte Fotos wurden geschossen. Es war an der Zeit für mich diesem ganz speziellen Ort, der sogar seine eigene Währung hat, mit der die Kinder republikintern dies und jenes kaufen können, Lebewohl zu sagen. Meine Freunde aus Dänemark entschieden sich noch länger zu bleiben bevor sie direkt weiter nach La Paz fahren würden. Mein Weg führte mich jedoch ins tiefe Herz Boliviens. …
COMARAPA. Per Autostopp war es mir schließlich gelungen mein nächstes Ziel zu erreichen. Es dauerte zuerst einige Zeit um den Konvent ausfindig zu machen, endlich angekommen läutete ich die Glocke und klopfte an die Tür, doch es schien ganz als wären die Hermanas Dominicas (Schwestern) außer Haus. Dann schaffte ich es durch das Hospital, das wie viele Einrichtungen in Comarapa durch die Tatkraft der Schwestern und die Unterstützung aus dem Ausland, allen voran Deutschland und Österreich, funktioniert, in den Innenhof des Konvents zu gelangen.
Der Empfang war wunderbar herzlich und bei Kaffee und Kuchen machte ich mich mit der aus Deutschland stammenden und bereits seit 48 Jahren in Bolivien lebenden Schwester Gundelinde bekannt. Insgesamt 9 Schwestern leben hier derzeit und üben verschiedene Funktionen wie Krankenschwester, Lehrerin und Kindergartentante aus. Ohne die langjährige harte Arbeit sähe das heute recht einladende Comarapa dieser Tage recht anders aus, viel hat sich getan.
Wohl unvergessliche 5 Tage lang sank ich in die Gastfreundschaft und Aufmerksamkeit der Gemeinschaft ein, genoss urtypische bolivianische Küche und durfte mich durch die unzähligen lokalen Früchte durchkosten. Ich war rundherum versorgt, fühlte mich wohl und hatte somit Gelegenheit endlich komplett auszuspannen und das Leben hier im Dorf und Umgebung hautnah mitzuerleben und verstehen zu lernen.
Am ersten vollen Tag nach meiner Ankunft besuchte ich den in schöner Parklandschaft gelegenen Kindergarten und die durch die Hilfe Dr. Bernardos aus Kufstein verwirklichte Krabbelstube, wo ich Stunden später müde aber erfüllt wieder raus spazierte. Wir spielten Fußball, zeichneten bunte Hunde, jonglierten und bemalten Eisstiele. Wenn man ein Foto schoss wurde man schon bald von einer das Tageslicht verdunkelnden Schar Kindern umhüllt, die am liebsten alle gleichzeitig an meinem recht üppigen 3 Monatsbart rupften. …
Mit ihrem knallroten Käfer fuhr mich Hermana Gundelinde am nächsten Morgen in die Albergue. Alte Menschen, die niemanden mehr haben, die ein Leben auf der Straße hinter sich haben, die irgendwann hier in Comarapa gestrandet sind, weder wissen wie sie heißen, wie alt sie sind noch woher sie kommen, werden hier aufgenommen um ihre letzten Jahre in Würde zu verbringen.
Wir kamen mit einigen Insassen ins Gespräch, tragisch sind die Schicksale. Nachtsüber bereitet das unter die Haut fahrende leidende Gekreische zweier Frauen, denen sonst die Worte fehlen, den Mitbewohnern schlaflose Stunden. Einige der Viejos (Alten) wirken heute recht zufrieden, andere leben in ihren Traumwelten und entfernen sich mehr und mehr von der Realität. Ein Mann lebte jahrelang völlig verkommen und allein in der Ecke eines kleinen Raumes unter kaum vorstellbaren sanitären Konditionen, unfähig sich zu waschen, bis er irgendwann von den Nachbarn aufgefunden wurde.
An diesem Tag hielt der Stellvertreter des Gouverneurs von Santa Cruz eine Rede am Plaza und brachte Reis und Nudeln für die alten Menschen. Die Freude war groß, Berto, der ebenfalls nicht sprechen kann, gab Laute des Dankes von sich. Man stand im Mittelpunkt. Vielleicht war dieser Moment einzigartig für viele. Welche Geschichten haben diese Menschen zu erzählen? Man fragt sich, welche Leben diese ärmsten der Armen hinter sich haben.
Und wie schön ist es zu erfahren, dass sich die Albergue in Comarapa dieser Personen annimmt und ihnen hilft, soweit es die knappen Mittel ermöglichen. Auch das Hospital erhält kaum Geld von Seiten des Staates, ohne Spenden würde hier wohl gar nichts funktionieren.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht kurz ein paar Worte zum Sein des Bolivianos verlieren. Mädchen die mit 13, 14 Jahren ein Kind zur Welt bringen sind hier keine Mediensensation sondern nichts weiter als die bloße Wirklichkeit. Frauen, die mit 20 Jahren bereits 4 Kinder geboren haben gehören ebenfalls zum alltäglichen Leben. Das Grundwasser ist in den meisten Orten Boliviens schmutzig und verseucht, doch gleichzeitig ein Bestandteil der Ernährung. Abgefülltes Wasser gibt es zwar zu kaufen, doch nur selten ist man in der Lage sich diesen “teuren” Luxus zu bieten.
Eine Frau um die 35 Jahre klopft bereits seit Tagen an das Tor des Konvents. 3 ihrer 5 Kinder sind noch zu jung um sich selbst zu erhalten, die anderen 2 halten sich gerade noch selbst über dem Wasser. Der Vater ist seit Jahren verschollen. Auch diese Fälle sind nicht selten. Ein Haus hat die Arme nicht, sie arbeitet jeden Tag bis zur Erschöpfung in irgendwelchen Farmen für etwas Brot zum Überleben. Aufgrund der unzumutbaren hygienischen Bedingungen ihrer Schlafstätte in Flussnähe ist sie an einem Käferbiss erkrankt. Dieses Ungeziefer fühlt sich wohl in derartigen Behausungen. In dem Bauch der Frau wächst verursacht durch den Biss seither eine Art Geschwür heran, eine Behandlung gibt es, doch die ist finanziell um vieles außer Reichweite. Auch mit derartigen Schicksalen beschäftigen sich die Schwestern, die sich hilfesuchend an auswärtige Spender wenden. Die Wirtschaft lässt zu wünschen übrig, das Leben in Bolivien ist für einen Europäer extrem billig und schon kleine Beiträge können hier Großes bezwecken. Gewiss kann ein jeder helfen, die Not ist groß, doch im Kleinen kann viel bewegt werden. Vielleicht sind Worte und auch Fotos nicht ausreichend um nur ansatzweise die Situation in den Dörfern zu beschreiben. Ein jeder von uns sollte doch dankbar sein, lachen über die Lächerlichkeiten, die wir gern Probleme oder gar Katastrophen nennen. Viele Sorgen, die unser Leben erschweren, kennt der Großteil der Bevölkerung hier nicht. Fast pervers wirken diese Sichtweisen in Betrachtung der traurigen Realität. …
Einen weiteren Vormittag verbrachte ich im Colegio, der Schule, in dem mich die freundliche Direktorin umher führte und ich an einer Geschichte-, Englisch- und Philosophieklasse teilnahm.
In der Geschichtestunde (Lehreinheiten dauern nur 35 Minuten) sprang man von einem Krieg zum anderen, wirkliche Details wurden nicht erwähnt, auf die Frage, was nun unsere, also die bolivianische Identität ausmache, antwortete ein munterer Knabe schlicht: “Pollo”! (Hühnchen).
Die Englischstunde mutierte zu einer Deutschschnupperklasse, als ich aufgefordert wurde den Jugendlichen ein paar Phrasen auf Deutsch beizubringen. Das sollte dann ziemlich lustig werden. Angesichts des beschränkten Fachwissens der Englischlehrer, war die knappe Einsicht in die österreichische Welt wohl bereichernder als der ursprüngliche Unterricht. Eine Stunde pro Woche, nicht mehr, lernen die Schüler hier Englisch, wenn sie die Schule verlassen beherrschen sie wenig mehr als ein gekichertes “How are you doing?” und “My name is … “.
Die Philosophiestunde glich wohl eher einem Religionsunterricht. Die Fragen die in den Raum gestellt wurden könnte man als philosophisch bezeichnen, die Antwort auf eine jede einzelne sollte jedoch jedes Mal Gott und die Notwendigkeit ihn zu lieben beinhalten.
Mehr als interessant war das ganze allemal und nach einer typischen Mahlzeit im ebenfalls von Dr. Bernardo finanzierten Comedor und einem Plauscherl mit den Lehrern entschied ich mich den 5 km entfernt liegenden Staudamm, den einzigen im Departamento (das übrigens allein so groß wie Deutschland ist), zu besichtigen. …
Danach besuchte ich noch die letzten 20 Minuten des Unterrichts einer ersten Klasse. Die 8-Jährigen malten Figuren des traditionsreichen Karnevals des Landes ab. Auf einem Globus versuchte ich den Kleinen Österreich zu zeigen, doch die meisten wussten nicht mal wo Südamerika, geschweige denn Bolivien ist. Auch die Erwachsenen sind stets hoffnungslos überfordert mit der Lokalisierung, geschweige denn dem Wissen der Existenz eines Landes namens Austria. …
Am vierten Tage lernte ich Tiburcio, einen studierten Landwirt, aus dem Ort kennen, der mir gemeinsam mit seinem Bruder seine Farm zeigte. Wir verbrachten den Nachmittag durch den Nebelwald wandernd, steile Hänge hinabkletternd oder erklimmend, wahrlich versteckte Wasserfälle suchend und findend, in eiskaltem Wasser badend, Moose und Flechten untersuchend und uns mit der Machete einen Weg durchs Dickicht oder über rutschige Steine bahnend.
Schon war der Tag der Abreise gekommen. Vormittags traf ich mich noch mit Tiburcio, wir schlenderten rauf zum Christo auf den Hügel, durch die Straßen und den Markt. Die Schwestern waren so nett gewesen mir die Weiterfahrt nach Cochabamba zu organisieren und gemeinsam mit Hermana Rosa, Gundelinde und Martha im Rücksitz wurde ich über die spektakuläre alte Route teilweise über den Wolken uns bewegend in 6 Stunden in die Boom-City Cochabamba kutschiert. Ich durfte vorne sitzen um die Aussicht besser genießen zu können. Als wir auf über 4000 Metern Höhe an einer Schar lachender, spielender und laufender, sich einen Wettkampf liefernden, Kindern vorbeifuhren, kamen mir plötzlich die Tränen. Ich ließ die letzten Tage in meinen Gedanken Revue passieren. All die Eindrücke hatten etwas in mir bewirkt, das ich selbst noch nicht ganz begreifen konnte. Schön war die Zeit gewesen.

COCHABAMBA. Dieser eindrucksvollen Zeit war noch kein Ende gesetzt. Bestens umsorgt werde ich auch hier in dieser geschäftigen Großstadt seit bereits 4 Tagen. …
Der Markt ist einfach nur riesig. Ich spreche hier nicht von einem Häuserblock, nicht von ein paar Häuserblocks sondern von einem Markt im Ausmaß eines ganzen Dorfes. In verschiedenen Sektoren werden von Küken (3 für einen Peso) und Erdnüssen, Möbeln und Musikinstrumenten, Elektrozeug bis Früchten, Kleidung und Essen rein alles angeboten. Der Andrang an den Wochenenden ist reichlich, die Fortbewegung erfolgt langsam und man spürt schon mal wie jemand versucht unauffällig an der Kameratasche oder der Geldbörse zu ziehen. …
Gemeinsam mit der ebenfalls sehr witzigen Schwester Josefine besuchte ich verschiedene Parks der Stadt, in denen sich die berüchtigten “Cleferos” aufhalten. Dies sind vorwiegend junge Menschen, die kein wirkliches Zuhause haben und ihre Nächte unter der Brücke verbringen. Untertags verdienen sich die Burschen und Mädchen gelegentlich beim Schuhputz oder Reinigen von Autoscheiben auf der Straße ein paar Bolivianos, doch nicht etwa um sich Nahrung zu kaufen, sondern um sich an geheimen Orten mit “Clefa” auszustatten. Dies ist ein Glanzmittel für Schuhe. Um sich über den Hunger hinwegzutäuschen und sich zeitweise “wegzubeamen” inhalieren die Cleferos die Substanz, welche bald abhängig und unfähig macht, klare Gedanken zu fassen. So vegetiert diese Gesellschaftsschicht Tag für Tag vor sich hin, man sieht ganze Familien von Cleferos im Park umher lungern und nicht bei klarem Verstand und sichtlich berauscht, wirre Phrasen stotternd durch die Stadt schwanken. Es handelt sich um Kinder die meist selbst schon Kinder haben.
Die Schwestern versuchen diesen Menschen zu helfen, man stellt Quartiere zur Verfügung, versorgt sie gelegentlich mit Nahrung, Kleidung, Medizin und bezahlt sogar anfangs die Miete. Eine Zeit lang scheint alles gut, doch in der Vielzahl der Fälle kehren die Cleferos in ihr altes Leben unter der Brücke zurück, ein geordnetes Leben scheint ihnen nicht zuzusagen. Wie mir einer der Knaben gesagt hat, haben sie schließlich einen “Pakt” mit der zur allmählichen Verblödung beitragenden Clefa geschlossen.
Es ist schwer für uns zu verstehen, warum sich die Jugendlichen und Kinder so schwer helfen lassen. Wenn sie gerade nicht unter dem Einfluss der Droge stehen scheinen die Jüngsten so unschuldig und man kann auch wunderbar mit ihnen reden und über dies und jenes quatschen. Im Lügen sind sie jedoch Weltmeister. Natürlich hätten sie Arbeit, ja schon seit Wochen seien sie keine Cleferos mehr, geschafft hätten sie es, sich von der Clefa loszureißen, soltero (allein) leben sie derzeit …
Am nächsten Morgen findet man denselben Burschen völlig verpeilt in seiner eigenen Welt lebend mit frischen Wunden im Gesicht unter der Brücke mit seiner Freundin auf (die womöglich bereits mehrfache Mutter ist).
Erst heute haben wir ein Paar in ihrem Quartier besucht. Nett haben sie es eingerichtet, die einst alkoholkranke Mutter des Mädchens scheint die beiden zu unterstützen. Arbeiten wollen sie, um so bald wie möglich auf eigenen Füssen stehen zu können. Das Mädchen ist 20 Jahre und hat bereits 3 Kinder von verschiedenen Vätern. Eine Tochter ist 7 Jahre alt und wurde an Adoptiveltern vergeben. Ein Sohn wurde von der Polizei aufgefunden, die laut der Ortsansässigen die korrupteste Einheit von allen ist, und an eine Sammelanstalt weitergegeben. Die jungen Eltern leben in der Illusion das Kind irgendwann herauszubekommen. Für jeden Tag, den das Kind in der Anstalt verbracht hat müssten sie allerdings 20 Bolivianos bezahlen – ein schlicht unmögliches Vorhaben also.
Der jüngste Sohn scheint wohlauf zu sein. Ich hatte ein gutes Gefühl, dass die beiden nun endlich ein geordnetes Leben führen würden. Die Schwester Josefine teilte mir jedoch mit, dass dies bereits der fünfte Anlauf sei, dem jungen Ramiro zu helfen. 5 Mal bereits hatte er die Möglichkeit in seinem eigenen Quartier mit eigener Verantwortung aus dem traurigen Leben auf der Straße zu entkommen. An dieser Stelle kann man nur mehr hoffen.
Die meisten Mädchen im Park sind schwanger, kaum bekommen sie ihr Kind, das des Öfteren ebenfalls unter der Brücke aufwächst, werden sie erneut schwanger. Gruppen, Banden, ganze Familien leben in dieser Art und Weise in den zahlreichen Parks. Manchmal trifft man auch im Zentrum Kinder mit dem Gesicht am Boden auf dem Gehsteig liegend auf. Welch Schicksale!
Auch ein altes Ehepaar haben wir besucht. Als wir eintraten, stand uns lediglich ein knurrender Köter im Weg, wir fanden die beiden schlafend in ihren Betten auf. Ein jeder Dieb könnte hier eindringen, doch viel zum Stehlen gäbe es so und so nicht. Die über 80-jährige Frau kann schon länger nicht mehr aufstehen, geschweige denn ohne Hilfe gehen. Eine Art Pension gibt es nur für die absolute Elite des Landes, man ist ansonsten im Alter auf die Unterstützung seiner Kinder angewiesen. Doch Kinder hatte das Paar wahrscheinlich keine. Wie auch Doña Anita ist Don Benedetto wenig mehr als Haut und Knochen. Nur einen Fuß hat er, das zweite Bein endet in einem schwarzen Fleischstummel. Auch er kann kaum gehen. Doch ist er für das Leben, der kaum mehr sprechenden Doña Anita verantwortlich. Jeden Tag erbettelt er sich ein paar Bolivianos um ein wenig Essen zu kaufen. Das Gehen mit seinen Krücken schmerzt ihn sehr, meint er. Wir hoben Doña Anita aus ihrem Bett, aus dem sie seit Tagen nicht mehr aufgestanden war, und drehten mir ihr eine Runde im Schneckentempo, denn schneller ging’s nicht, vor der Tür, bevor wir der erschöpften Alten in ihr Bett zurück halfen. Lange werden es die beiden wohl nicht mehr schaffen. Doch der unter Tuberkulose leidende Don kämpft jeden Tag, um sein Leben und somit auch das Leben seiner Gefährtin. …
Morgen reise ich weiter nach La Paz. Ich bin müde und unendlich dankbar für die vergangen Tage in Comarapa und Cochabamba. Vielleicht in 10 Jahren habe ich die Möglichkeit zurückzukehren um ein Schnitzel raus zu backen und mit anzusehen, wie die Geschichten weitergingen und was aus den Cleferos geworden ist. Herzzerreisend ist so manches, was hier passiert. Prägend sind die Erfahrungen und wertvoll das gewonnene Verständnis für einen Menschen aus der westlichen Gesellschaft. …

Ich wünsche euch nur das Beste aus dieser so schwer zu begreifenden doch wundervollen Ferne, Bolivien.
Viva!
Hannes Reitberger